Vom regsamen Leben im Strudelbachtal
Den folgenden Vortrag »Vom regsamen Leben im Strudelbachtal« hielt Prof. Dr. Willi A. Boelcke, Stuttgart, anlässlich der 1175-Jahr-Feier am 21.8.1987 in der Strudelbachhalle.
Grund zum Feiern
Eigentlich hat Riet reichlich Grund zum Feiern, da es an Jubiläumsdaten nicht mangelt:
- Eine Urkunde von 812 n. Chr. überlieferte erstmals die Existenz von Riet.
- Eine Urkunde von 1188 bezeugte das Vorhandensein der Burg oder des Schlosses (castrum) Riet.
- 1487 erhielt Riet erstmals vom Deutschmeister die Erlaubnis, aus der eigenen hiesigen Kapelle eine Pfarrkirche zu machen und sich deshalb aus der Mutterkirche Enzweihingen zu lösen.
- 1787 wurde vom evangelischen Kirchenrat das noch vorhandene alte Schloss der Bombaste von Hohenheim zum Pfarrhaus in Riet bestimmt.
- 1907 begann für Riet ein neues Verkehrszeitalter mit dem Bau der Strudelbachbrücke aus Eisenbeton, die die wohl ein Jahrtausend überbrückenden hölzernen Vorgängerkonstruktionen ersetzte.
- 1937 erhielt Riet die Hauswasserversorgung.
- 1972 wurde von den Bürgermeistern von Vaihingen und Riet die 25 Paragraphen umfassende Vereinbarung über die Eingliederung von Riet in die Stadt Vaihingen geschlossen. Es war im Grunde ein Jahrhundertwerk, das Selbständigkeit nahm, aber neue Selbständigkeit auch schuf, weil die Stadt Vaihingen die wesentlichen und kostspieligsten Wünsche der Rieter schon fast restlos erfüllte: Den Bau des Kindergartens, der 1,5 Millionen DM teuren Mehrzweckhalle u. a. m. Auch das verdient Rückbesinnung, Anerkennung und Beifall. Die Rieter ließen sich teuer bezahlen, dass sie Städter wurden oder werden mussten.
Rückschau
Zwischen weltlicher Herrschaft und kirchlicher Obrigkeit, den zwei ehernen Säulen gesellschaftlichen Daseins, spielte sich rund 1200 Jahre das Leben der Rieter ab. Es war ein Leben zwischen Fremdbestimmung und Selbstbestimmung, zwischen Aufstieg und Niedergang und immer wieder neuem Aufstieg, zwischen Freude und Leid; ein Leben, reichlich mit Arbeit und viel Fleiß angefüllt, gepaart mit Enttäuschungen. Ob sich Licht und Schatten gleichmäßig verteilten, ist schwer zu sagen. Aber was waren und sind das für Menschen hier in der engen Senke des tief eingeschnittenen idyllischen Strudelbachtales, die Riets Entwicklung vom Mittelalter bis in die Gegenwart prägten? Wie haben die Menschen hier gelebt? Was haben sie geschaffen? Bei einer Rückschau aus heutigem Anlass (Anm.: 1175-Jahr-Feier) drängen sich solche Fragen auf und harren der Beantwortung.
Der »Winzling« im Strudelbachtal
Ein volkreicher Ort von großer Ausdehnung war Riet nie in seiner langen Geschichte gewesen. Die rund 3 km2 große Ortsmarkung ließ es nicht zu. Riet blieb gewissermaßen ein Winzling unter größeren Nachbarn, ohne dass es den Rietern an gesundem Selbstbewusstsein fehlte, ihre Eigenständigkeit je in Frage stand.
1856 zählte Riet als Gemeinde III. Klasse 386 Einwohner, 1939 in einer Niedergangsphase sogar nur 246, um jedoch in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts (Anm.: des 20.) einen ungewöhnlichen Aufschwung zu erleben und es bis 1987 auf über 860 Einwohner zu bringen. Riet war zur wachstumsstärksten Gemeinde um Vaihingen geworden. Wer am Puls von Riet fühlt, wird immer wieder Ungewöhnliches ausmachen.
Das Geheimnis von Riet
Ein Geheimnis Riets bestand wohl seit jeher darin, dass es den Reiz besonderer Anziehungskraft ausstrahlte und nach wie vor ausstrahlt. Diese Attraktivität, teils landschaftlich bedingt, führte dazu, dass sich hier im Mittelalter und in früher Neuzeit ein verwirrendes Spiel wechselnder aristokratischer Schlossbesitzer in zeitweilig vier, vielleicht auch mehr Adelssitzen darbot, Riet damals zum bevorzugten Ort adligen Besitzstrebens wurde, und dass in jüngster Zeit das reichlich erwachte Selbstbewusstsein einheimischen und zugewanderten bürgerlichen Bauwillens ein völlig neues Riet neben dem alten gewissermaßen aus dem Boden stampfte. In jedem Falle bot Riet Besitzstreben, das nie billig war, Raum zur Selbstverwirklichung. Um zu besitzen, musste man erwerben, brauchte man Vermögen, zumeist der Verdienst eigenen Fleißes.
Was die Oberamtsbeschreibung von 1856 über die Rieter sagte, scheint daher noch heute - wenn auch mit einigen Abstrichen - zuzutreffen:
Die Einwohner sind regsame, muntere Leute, körperlich wohlgestaltet und gesund. Mit Arbeitsamkeit verbinden sie Ordnungsliebe und kirchlichen Sinn.
Das Wort kirchlicher Sinn ist wohl zu blass, um auch für die religiöse Frühzeit Riets zuzutreffen. Einem Beispiel inniger christlicher Frömmigkeit und tiefer Besorgnis um das eigene Seelenheil verdankte Riet seine sehr frühe schriftliche Erwähnung, schon im Jahr 812, noch zur Regierungszeit Kaiser Karls des Großen. Seinem Reichskloster Lorsch an der Bergstraße, 772 gegründet, wurden nach Ausweis der Urkunde von 812 zwei Morgen Land und ein Baumgarten zu Riet geschenkt. Das Reizvole dieser Urkunde besteht wohl auch darin, dass sie nicht einen Mann, sondern eine voll rechtsfähige Frau, offenbar eine adlige Dame mit dem schönen, damals noch seltenen Namen Adelheid als älteste bekannte Bewohnerin bzw. Eigentümerin in Riet uns überliefert. Riets Geschichte begann mit einer Frau, vielleicht sogar mit einer Burgunderin?
Über ein Jahrhundert später machte die ebenso schöne wie kluge burgundische Königstochter Adelheid an der Seite ihres Gemahls, Kaiser Ottos des Großen, mittelalterliche Weltgeschichte. Über zwei Jahrhunderte danach, unter dem Staufer Kaiser Friedrich Barbarossa, gehörte das Schloss Riet, dem staufischen Burgenbau zuzuordnen, in den unmittelbaren Interessenkreis der staufischen Hausmachtpolitik. Von Burgen aus sicherten die Staufer das Land und beherrschten es.
Die Leibeigenen
Die soziale Unterschicht, die Bauern von Riet, werden erst in einer Quelle von 1304 greifbar. Leibeigene waren es in ihrer Mehrzahl, verkaufte und gekaufte Menschen, Abhängige, wie auch aus den Zeugnissen des 15. Jahrhunderts zu entnehmen. Die Esslinger Quelle von 1304 erwähnt den Garten des Trutwin, genant das Mennlin, gelegen hinter der Scheune des Tumerzinger. 12 Heller Zins waren von diesem Garten zu Martini dem Katharinen-Spital in Esslingen zu entrichten. Außer vom Land wurde von der Person gezinst. Typische Abgabe der leibeigenen Frau war die sogenannte Leibhenne, eine Anerkennungsgebühr, die die Reischach bis ins 17./18. Jahrhundert erhoben, sofern nicht in einen Hellerzins oder Leibschilling umgewandelt.
Schwerer wog das Hauptrecht von ein abgestorben lypeigen Mann
, also
der geforderte Gulden von je 100 Pfd. Heller seiner taxierten Hinterlassenschaft
und von einem wib halb soviel
, wie im erneuerten Lagerbuch von Nußdorf,
Riet etc. von 1535 vermerkt. Verschiedenste Leibherren besaßen im 16. Jahrhundert
Leibeigene in Riet, so auch 1585 das Kloster Maulbronn, das von drei Leibeigenen
namens Neydhardt Abgaben forderte.
Von der sogenannten »Verhauptrechtung« von Leibeigenen berichten auch Eintragungen des Reischachschen Notabilien-Buches von 1688 - 1736. So wurden 1691 von einem verstorbenen leibeigenen Mann 30 fl Hauptrecht eingezogen, eine nicht geringe Summe, da damals dem Wert von zwei tragenden Kalben entsprechend. Von »Lehnsleibeigenen« wurde stattdessen das »Gürtelgewand« gefordert. Auch Befreiungen aus der Leibeigenschaft gab es schon damals, nicht erst im 19. Jahrhundert. Als sich Anna Margarethe Ezel, Angehörige einer alten Rieter Familie, 1702 aus der Leibeigenschaft freikaufte, musste sie 12 fl der Herrschaftskasse entrichten.
Der Adel
Die Adelssitze in Riet bildeten in feudaler Zeit die beherrschenden Mittelpunkte des Ortes, von denen die dynamischen, gestaltenden Kräfte ausgingen. Die größte Bedeutung kam seit dem Mittelalter dem Schloss der Reischachs zu, noch heute Wahrzeichen von Riet. Spätestens mit der Belehnung von 1453 an Hans von Reischach, Hofmeister der Grafen von Württemberg, hielt das uralte Geschlecht der von Reischach auf Schloss Riet seinen Einzug, um noch heute dort zu residieren. Eine lange Ahnenreihe von etwa 30 Generationen der Reischachs, seit 1706 Reichsfreiherren und seit 1810 Grafen von Reischach, zumeist im Dienst des württembergischen Herrscherhauses, machte in Riet und von Riet aus Geschichte. Es gab auch Zeiten, in denen Vaihingen von Riet aus gewissermaßen regiert wurde und nicht umgekehrt - wie heute - Riet von Vaihingen aus.
Einige Herren von Reischach übten das Amt des Obervogts von Vaihingen aus. Andererseits machte die vorhandene Zahlungskraft im spätmittelalterlichen Vaihingen begehrlich. Wegen einer vermögenden Vaihinger Patriziertochter, mit der Hans von Hohenheim verheiratet war, hatte dieser, Angehöriger des Geschlechts der Hohenheimer Bombaste, seinen Anteil am Familiengut Hohenheim verkauft und seinen Sitz auf einem damals noch reichsunmittelbaren Gut in Riet genommen. Nach seiner in der Sakristei der Rieter Kirche erhaltenen Grabtafel wird in schwer lesbarer, schlanker gotischer Schrift mitgeteilt, dass Hans von Hohenheim 1455 oder 1456 verstorben sei.
Theophrast Bombastus von Hohenheim (1493 - 1541), der berühmte Paracelsus, großer Arzt-Apotheker, unsteter Wanderarzt, Reformator der Medizin und Chemie, war bekanntlich ein illegitimer Spross aus der alten Ministerialenfamilie der Bombaste von Hohenheim. Eine spätere evangelische Geschichtsforschung wollte den von ihr verurteilten moralischen Fehltritt, der einen der größten Geister der frühen Neuzeit hervorzubringen half, dem Johanniterkomtur und katholischen Reichsfürsten Georg von Hohenheim unterschieben. Dieser hatte jedoch vor ehrbaren Leuten von Adel bezeugt, dass Theophrasts Vater, Herr Wilhelm genannt, seiner fürstlichen Gnaden Brudersohn gewesen und außerhalb der Ehe geboren sei. Der Johanniterkomtur und des Paracelsus Vater, der 1482 in der Tübinger Matrikel eingetragene »Wilhelmus Bombast de Riett, pauper«, waren demnach Vettern.
Wer aber von den um 1460 bezeugten Bombaste von Hohenheim in Riet könnte nun der Großvater des Paracelsus gewesen sein? Eine bis heute in der Literatur erörterte Streitfrage! Der Vater und Urgroßvater des Paracelsus sind also bekannt, beide als Bewohner von Riet ausgewiesen. Auch der Großvater des Paracelsus muss demnach mit Riet in Verbindung gebracht werden. Unter den Bombasten von Hohenheim, die mit größter Wahrscheinlichkeit in Riet sesshaft waren, kommt in erster Linie der im Württembergischen Dienerbuch 1464 unter den Forstmeistern von Stromberg erscheinende »Wilhelm von Hohenheim genannt Bombast, aetatis 18 Jahr« (geboren 1446) in Betracht. Wilhelm ist auch der Vorname des Vaters von Paracelsus. Ist in diesem zweiten Verbindungsstück vielleicht aber nur ein Zufall zu erblicken? Sicher nicht!
Nach menschlichem Ermessen - sofern man nicht bösartige Infamie unterstellt - dürfte kein Hohenheimer mit anderem Vornamen aus dieser Generation ausgerechnet seinem unehelichen Sohn den Vornamen eines seiner Brüder oder nächsten Anverwandten gegeben haben. Forstmeister Wilhelm von Hohenheim dürfte demnach der Vater des unehelich geborenen, späteren Arztes Wilhelm Bombast und damit der Großvater des Paracelsus gewesen sein. Lässt sich diese auf der Namensgebung unehelicher Kinder aufgebaute Indizienkette vielleicht noch über parallele zeitübliche Gepflogenheiten absichern? Einen solchen Beleg bietet wiederum das zeitgenössische Riet.
Auch der Hans von Reischach, gestorben 1492 in Pforzheim, muss einen Bastardsohn mit Namen Hans von Reischach gehabt haben. Der Bastard führte also den Namen des Vaters. Leibeigene Kinder, gleichgültig ob ehelich oder unehelich geboren, wurden der Mutter zugeordnet, unehelich geborene Söhne aus Adelsfamilien damals aber der Vatersfamilie.
Ob den Paracelsus, geboren in Einsiedeln und gestorben in größter Armut in Salzburg, mehr als nur die familiäre Herkunft mit Riet verbindet, ist schwer zu sagen. Gab es vielleicht auch geistige Wahlverwandtschaften? Wie die zwischen Großvater und Enkel? Die Lebensphilosophie des Paracelsus war jedenfalls zeitgebunden und zugleich überzeitlich, ist jedoch im Kern noch heute gültig. In jedem Körper müssen drei Elemente, die Seele, der Geist und der Leib, in einer bestimmten Harmonie vorhanden sein.
Die Renaissance
Neues Selbstbewusstsein erwachte in den Menschen im Zeitalter der Renaissance, der
Reformation, des Humanismus, wofür Paracelsus beispielhaft war. Das neue Lebensgefühl,
realitätsbezogener, offenbarte sich auch in den kunstvoll gestalteten Grabmälern
des 16. Jahrhunderts, die nicht mehr an den Tod, sondern primär an den Lebenden
erinnerten und sein Bild der Nachwelt erhalten wollten. Beispielhaft dafür ist das
ausdrucksstarke Grabdenkmal in der Rieter Kirche der 1562 verstorbenen
edel und dugatsam Frau Maria von Reischach geborene Grempen von Freudenstein
,
die ihre Hand behutsam auf ein kleines Kind legt, gleichsam eine treusorgende Mutter
(sie hatte nur Töchter). Die Gremps waren übrigens auch Vaihinger Patrizier, durch
die Geld nach Riet floss.
Eindrucksvoll ist nicht minder das Eberdinger Grabmal des vermögenden, 1593 gestorbenen Johann Michael von Reischach, knieend im andachtsvollen Gebet vor einem Kruzifix. Vermögend war auch Jakob Eberhard von Reischach (1563 - 1630), einer von vielen Reischachs, die sich um Riet verdient machten. Im Jahre 1620, als bereits der fürchterliche Dreißigjährige Krieg in Deutschland tobte - auch Riet litt unter ihm anderthalb Jahrzehnte später - ließ er Schloss und Garten zu Riet herrichten.
Schlossgut Riet
Das Lagerbuch von 1620 beschreibt das massige Wasserschloss und nennt als Zubehör des markanten Bauwerks mit seinen vier runden Ecktürmen und Wassergraben mit Zugbrücke einen
wurtzgadtlin über dem graben Bach- und Torhaus und Scheuren, Stallung, fünf Viertel zehnthalb Ruten Bohm- und -Grasgarten ... mit Mauer eingefasst stößt auf Keltergasse
ferner eine Meierei mit Stallung, 7 1/2 Morgen Weingarten am Schloss, 9 Morgen 3 Viertel Wiesen und 166 Morgen 9 Viertel Acker in allen drei Zelgen - insgesamt ein stattlicher Herrensitz.
Bis ins 19. Jahrhundert war der Gutsbetrieb der Schlossherrschaft, das Meiereigut,
der größte Landwirtschaftsbetrieb im alten Riet. Über ein Jahrtausend stellte die
Landwirtschaft den beherrschenden, die Einwohner ernährenden Wirtschaftszweig dar.
Der Getreidebau erfolgte bis ins 19. Jahrhundert nach strenger Ordnung im Rahmen
der Dreizelgenbrachwirtschaft, bei der in jährlichem Wechsel auf drei Zelgen Wintergetreide
(Roggen und Dinkel), Sommergetreide (Hafer) und die Brache folgten. Mit aus heutiger
Sicht erschreckend niedrigen Brutto- und Nettoerträgen musste sich die Landwirtschaft
über Jahrhunderte hinweg begnügen.
Nach präzisen Ertragsberechnungen für das Schlossgut Riet - ein selten glücklicher Quellenfund - wurde in dem 15-jährigen Zeitraum von 1713 bis 1727 ein durchschnittlicher jährlicher Nettoertrag (nach Abzug der Aussaat und identisch auch mit der Marktproduktion) von 6 dz Getreidewert (Dinkel und Hafer) je ha bzw., in Geld ausgedrückt, von 15 Gulden erzielt. Für die damalige Zeit erwirtschaftete man sogar eine überdurchschnittliche Rendite. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden von den Rieter Bauern je ha etwa 10 dz Getreide im Durchschnitt geerntet, und heute beläuft sich der hiesige Weizenertrag pro ha sorten-, standort- und wetterbedingt auf etwa 40-50 dz.
Wer wenig erntete, stellte sich stets die Frage, warum es nicht mehr sei. Auch der reiche Georg Wilhelm von Reischach fragte 1718 seinen Burgvogt in Riet:
Sonsten mögte wohl wissen, wo es herkommen mag, daß die Mäuße und anders Ungeziefer so viel Schaden in den Früchten tuen.
Mäusefänger wurden angestellt, seit 1800 der Mausfänger von Eberdingen gegen Jahresbesoldung von 9 fl zur Bekämpfung der Mausplage in Riet engagiert, bald darauf auch ein Maulwurffänger, bis 1841 der Meiereipächter die erhobene Umlage für dessen Entlohnung nicht mehr zahlen wollte. Seine Zahlungsunwilligkeit begründete er damit,
daß Maulwürfe sich nur in solchen Güterdistrikten aufhalten, wo sich Insekten und namentlich Maikäferlarven vorfinden und sie selbst das Feld verlassen, wo keine Nahrung mehr für sie vorhanden ist. Maulwürfe seien nicht mehr zu den gemeinschädlichen, sondern unter die allgemein nützlichen Tiere gehörig.
Dass die Rieter ihr Geld mit vollen Händen aus dem Fenster warfen, lässt sich ihnen kaum nachsagen. Auch waren sie für ihre Zahlungsunwilligkeit bei anstehenden Rathaus- oder Schulbauten um Argumente nie verlegen. Einen gesunden Geschäftssinn wird man ihnen jedenfalls bis heute nicht absprechen können. Vielleicht offenbarte er sich auch darin, dass der am morgigen Tage (Anm.: 22.8.1987) einzuweihende neue Radfahrweg ausgerechnet da endet, wo sich dem müde gewordenen Zweiradlenker die Tür zu einem Wirtshaus öffnet.
Der Wein
Wein war schon seit dem Mittelalter den Frondienstleistenden als Trunk bei der Arbeit von der Rieter Schlossherrschaft gegeben. Nach dem 1579 schriftlich fixierten Fronvertrag sollten die Untertanen von Eberdingen und Riet zur Notdurft des Schlosses Riet in den Eberdinger Wäldern Brennholz schlagen, doch nicht im Überfluss, und nur die Hälfte gen Riet liefern, die andere Hälfte aber sollten der Junker bzw. seine Erben nach Riet »verschaffen«. Die Schlossherren waren, wie bisher geschehen, verpflichtet, den Holzbauern
dreyen ein Laibbrot und den Fuhrleuten zu essen ein suppen oder mus und gemüs, aber ein trunk dazu zu geben zu seinem und seiner Erben nach Gelegenheit des Jahrgangs freien willen stehen.
Wein floss einst reichlich auf der Rieter Markung, bisweilen auch Honig. Gewöhnlich der 18. Teil des auf der herrschaftlichen Kelter gepressten Weins war der Herrschaft zu geben. Von der Kelter in Riet, erstmals 1440 bezeugt, unweit der Schlossmauer an der Keltergasse gelegen, nahm die Herrschaft von dem Dreißigjährigen Krieg im Laufe von 8 Jahren insgesamt 28 Eimer Kelterwein, also fast 8.600 Liter ein. Dass die heute zumeist verwilderten Weinterrassen von Riet damals einen Durchschnittsertrag von rund 20.000 Liter Wein erbracht haben sollen, ist kaum vorstellbar.
Man erntete im 18. Jahrhundert offenbar noch mehr. Nach der Reischachschen Ausgabenrechnung von 1725 verkaufte der Burgvogt 79 Eimer Wein von Riet (= 24.000 Liter) und angeblich lagerten dort noch 238 Eimer (= 72.000 Liter). Mitte des 19. Jahrhunderts rechnete man mit einem Durchschnittsertrag von 9 Eimern (= 900 Liter) je ha. Man verfügte damals über etwa 44 ha Weinberge (heute nur noch über etwa 2,2 ha Weinanbaufläche).
Weinberge, sofern sie steile Terrassen bildeten, machten stets
außerordentlich viel zu schaffen
und den württembergischen Weingärtner zu einem geplagten
Mann. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts war nur die Hälfte der ausgewiesenen
Weinbergsfläche bebaut: mit Trollinger, Affentaler, Elblinger, Silvaner, Veltliner
und etwas Klevner, die insgesamt einen roten, sehr lagerhaften Wein ergaben.
Die tragende Säule im Erwerbseinkommen der Rieter bildete bis ins 20. Jahrhundert unstreitig die stark betriebene Rinderzucht, die gehaltenen rund 200 Stück Rindvieh, deren Futtergrundlage die ertragreichen bewässerten Wiesen im Strudelbachtal boten. Alle andere Tierhaltung, ausgenommen die uralte und heute noch höchst lebendige Schäferei, diente im wesentlichen dem Eigenbedarf. Zu großem Wohlstand konnte man es freilich wegen der Kleinheit der bäuerlichen Wirtschaften nicht bringen. Nebenerwerb war notwendig, während der vielen Notzeiten die Hilfe vom Schloss unentbehrlich.
Jahr | Pferde | Rinder | Schweine | Schafe | Bienenstöcke | Geflügel |
---|---|---|---|---|---|---|
1856 | 18 | 193 | 27 | 134 | 27 | ? |
1935 | 10 | 212 | 98 | 138 | 15 | 1.300 |
1971 | 0 | 125 | 70 | 120 | 15 | 354 |
Soziale Verantwortung
Die Sozialverantwortung vieler Rieter Schlossherren früherer Jahrhunderte ist bemerkenswert.
Im Jahre 1725 fertigte Johann Eberhard Wilhelm von Reischach eine in dieser Hinsicht
beachtliche Aufstellung an: Die der jährlichen Legate des verstorbenen Vaters, eines
offenbar sehr um das Gemeinwohl bedachten Mannes. Der Erbe addierte einen hohen
Betrag von 1.577 fl, die den Rieter Schlossherren jährlich zu zahlen nicht
schwer fiel, Legate an arme Bedürftige, an das Waisenhaus in Stuttgart, an die Universität
Tübingen, die Heiligen zu Heimerdingen, die Heiligen zu Riet, zu Eberdingen und
zu Nußdorf, an das Spital zu Kirchheim, das Hospital zu Tübingen und den Armenkasten
in Stuttgart.
Von großer Sozialverantwortung zeugte auch die von einem privaten Freundeskreis
getragene, 1849 auf Schloss Riet eröffnete Heil- und Pflegeanstalt für schwachsinnige
Kinder, die erste dieser Art in Württemberg. Der ärztliche Vorstand der Anstalt
erläuterte 1849 sein Vorhaben:
Die Zahl solcher unglücklicher Kinder ist sehr groß in Württemberg; bei weitem der größte Teil gehört der ärmsten Klasse an; ihnen wird deßfalls auch in der Regel keine rettende Hilfe zuteil.
Im Dezember 1849 wurden 12 Kinder auf Schloss Riet gepflegt.
Die Reischachs und das Kreditgeschäft
Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert zählten die Reischachs aus Nußdorf, Eberdingen und Riet zu den weitaus reichsten Familien des ritterschaftlichen Adels im Herzogtum Württemberg. Sie besaßen viel Grundbesitz, hatten große Vermögen ererbt und erheiratet und diese durch Einkünfte aus dem Kriegsdienst, aus hohen Staatsämtern, aus ihren eigenen Wirtschaftsbetrieben sowie durch Gewinne aus dem Hammerauschen Bergwerk (Maxhütte) bei Salzburg und nicht zuletzt aus den jährlich in reichem Maße zufließenden Zinsen ihrer Kreditgeschäfte noch bedeutend zu mehren gewusst. Eine glückliche Hand in Geldgeschäften und eine möglichst sparsame Lebenshaltung, der prasserische Völlerei abhold war, waren selbstverständliche Voraussetzungen für die gewaltige Vermögensvermehrung seit Ende des Dreißigjährigen Krieges. Noch 1724/25 wurde auf Schloss Riet auch über die kleinste Ausgabe sorgfältig Buch geführt:
1 Zahnbürste 4x, Herrn Prof. Faulhaber für ein Monat Information über Arithmetik 3 fl, Schweineschmalz zur Haarpomade 11x, Kräutertabak zum Räuchern 6x, 2 Laib Brot 16 Heller.
Durch das große Reischachsche Vermögen, Grund- und Geldvermögen, entwickelte sich Schloss Riet für etwa ein halbes Jahrhundert zum wohl wichtigsten Zentrum des privaten Kreditverleihs zwischen Neckar und Donau. Bei seinem Tode im Jahre 1724 hinterließ Georg Wilhelm Reichsfreiherr von Reischach ein bis auf zwei Ausnahmen gegen fünf Prozent Zins (also kein Wucherzins) verliehenes Kreditkapital in Höhe von 79.485 fl, gestückelt in nur 31 Schuldbriefe. Ein Gültkapital von 36.000 fl (= 45 %) hatten sich elf Reichsstädte (Ulm, Esslingen, Giengen, Nördlingen, Heilbronn, Reutlingen, Gmünd, Dinkelsbühl, Weil der Stadt, Aalen und Memmingen) auf dem Wasserschloss Riet beschafft, offenbar bei der damals besten Adresse für kapitalhungrige reichsstädtische Kreditnehmer.
Zu den namhaften Schuldnern der Reischachs zählten u. a. auch die württembergische Landschaft, der Schwäbische Kreis, einige Kaufleute und nicht zu vergessen die berühmte Calwer Zeughandlungs-Compagnie. Obwohl im Dienste des württembergischen Herzogs stehend, hütete man sich in Riet davor, dem Landesfürsten Kredit einzuräumen. Ein wichtiger Geschäftsgrundsatz der Reischachs war es ferner, größere einkommende oder zurückgezahlte Geldbeträge sogleich wieder gegen Zins als Kredit auszuleihen. Geld musste arbeiten, wie man zu sagen pflegte.
Die Rieter Bauern schufen sich ihre eigene Kreditkasse erst im Jahre 1893 nach einem langen, für beide Seiten - für Schlossherrschaft und bäuerliche Untertanen - voran gegangenen schmerzlichen Entfeudalisierungsprozess, der von den Agrarreformen des 19. Jahrhunderts eingeleitet wurde. Die Gründung des Darlehenskassenvereins, eingetragene Genossenschaft mit unbeschränkter Haftung, eine Raiffeisengenossenschaft, die billigen Kredit - anfangs höchstens 500 Mark - den Mitgliedern zu 5 % Zins vermittelte, auch den Landwarenhandel und später eine Waschanlage und Beizerei betrieb, gab den Rietern - 1914 den 50 Genossenschaftsmitgliedern - ein gutes Stück wirtschaftlicher Unabhängigkeit.
Die erste Selbsthilfeorganisation gründeten Riets Bürger schon 1871 mit ihrer Freiwilligen Feuerwehr, heute (Anm.: 1987) eine einsatzbereite Truppe von 22 Mann. Es folgte 1874 der eigene Sängerbund, die löbliche Gründung eines die Bürgerschaft verbindenden Freizeitvereins. Erst 1968 wurde der Sportverein gegründet.
Schloss und Dorf
Völlig spannungsfrei gestaltete sich wohl selten bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Verhältnis zwischen Schloss und Dorf. Vom Schloss aus nahm man die verschiedensten Herrschaftsrechte wahr, Hoheitsfunktionen, die der Gutsherrschaft. Die Bauernschultheißen von Riet waren ihr verlängerter Arm. Als sich dann die bürgerliche Gemeinde mit den Gemeindereformen des 19. Jahrhunderts aus alter Abhängigkeit emanzipierte und der Bürgermeister sich als neuer Herr im Dorfe dünkte, ließen sich neue Konfliktsituationen nicht immer vermeiden.
Ein Schreiben von Ulrich Graf von Reischach aus dem Jahre 1934 an den Landrat, ein
geharnischter Beschwerdebrief, bezeichnete wohl den Zustand tiefster Vereisung zwischen
Schloss und Rathaus, obwohl der trennende Strudelbach nur selten im Winter einzufrieren
pflegte. Bürgermeister Bauer
, so Graf Reischach,
hat zu den Bewohnern des Dorfes eine Einstellung wie etwa früher ein gewisser Unteroffizierstyp zu den Rekruten. Er schreit und tobt oft derartig auf dem Rathaus mit den Leuten, dass man es bei offenem Fenster im halben Dorf hören kann.
Amtspersonen
Allerlei Amtspersonen, Pfarrer, Ortsvorsteher und Schulmeister
segensreichen und unglücklichen Andenkens
(um aus der Pfarrgeschichte zu zitieren), haben
in Riet gewaltet und verwaltet, gepredigt und gelehrt, viel Gutes geleistet, Bleibendes,
der Nachwelt Nützliches, und sind deshalb in guter Erinnerung. Der Name von Bürgermeister
Kaufmann verdient es, in die Geschichte als unbeirrbarer Schöpfer des modernen Riet
einzugehen.
Schwere Aufgaben wurden oft bewältigt bei schlechter Bezahlung oder allein kraft eines ehrenden Ehrenamtes. Manches schwarze Schaf war leider nicht von Anbeginn sogleich als solches zu erkennen, so dass nicht immer der geeignete Mann den richtigen Platz einnahm. Zu lange Zeit und zu ausgiebig wurde das pädagogische Prinzip, dass eine dauerhafte Wissensvermittlung unbedingt der Prügel bedarf, praktiziert. 1884/85 war der provisorische Lehrer Lämmle nicht nur durch seine allzu handgreifliche Handhabung der Schulzucht in Riet bei alt und jung zu einem Ärgernis geworden. Der Lehrer verwendete seine Schüler auch zu Privatgeschäften und trug obendrein blutige Händel mit seiner Ehefrau aus. Bedauerlicherweise war dieser Lehrer nicht der einzige, der, da nicht frei von Fehl und Tadel, aus dem verantwortungsvollen Amt wieder entfernt werden musste.
Mit sicheren verwandtschaftlichen Wählerstimmen im Rücken war 1923 der Magazinier bei der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria in Stuttgart, also erstmals ein Arbeiter nach einer langen Reihe von Bauernschultheißen, zum Ortsvorsteher gewählt worden. Doch er nahm sein Amt nicht an. Und nun fiel die Wahl der Rieter auf den gestrengen Landjäger Gottlob Bauer aus Unterriexingen, einen Zuchtmeister und unerbittlichen Ordnungshüter, der keinen Widerspruch duldete.
Besonders die Familie des Schuhmachers und Landwirts Jakob Haberkern war ihm ein
Dorn im Auge. Anfangs erschien ihm die Ehefrau Haberkern als Stein des Anstoßes,
da der Ehemann
, so berichtete der Bürgermeister der Aufsichtsbehörde,
als Geduldeter existiert und keinerlei Einfluss auf die Machenschaften der Familienmitglieder hat. Daraus ergibt sich, dass er auch im öffentlichen Leben eine Meinung oder Gesinnung nicht vertritt …
Diese Folgerung schloss nicht aus, dass der Schultheiß, als die Ehefrau Haberkern
im Juni 1929 wegen Schimpfens mit einem Tag Haft im Rathausgefängnis belegt wurde,
nun auch den Ehemann, den Jakob Haberkern, weil er nach der Inhaftierung seiner
Frau auf offener Straße über Ortsvorsteher und Gemeindebehörde unter Schimpfen und Lärmen getobt
habe, sogleich ebenfalls wegen Ungebühr mit einem Tag Haft zu belegen.
Und damit nicht genug. Auch bei der Jugend, insbesondere beim Haberkern-Nachwuchs, sah der vom Ordnungsfanatismus besessene Bürgermeister schon neue Gefahren heraufziehen. Er teilte der Oberbehörde mit:
Bei dem Radfahren des Otto H. handelte es sich um andere gefährdendes Fahren, indem die Burschen dauernd, da sie daheim nicht zur Arbeit angehalten werden, planlos im Ort herumfahren.
Der Himmel ersparte dem strengen Rieter Inquisitor das Erleben des für ihn sicher noch weniger begreiflichen örtlichen Verkehrs jugendlicher Fahrzeuglenker mit dem Motorrad und dem Automobil. Riet überlebte seine Niedergangsphase in den 1920er und 1930er Jahren.
Die Wandlung und das Wachstum des Dorfes
71 Haupt- und Wohngebäude zählte Riet im Jahre 1856, überwiegend kleinere bäuerliche Anwesen. Bauern aus alten heimischen Familien stellten auch die Mehrzahl der ehrenamtlichen Gemeinderäte bis zum Ersten Weltkrieg neben den wenigen örtlichen Gewerbetreibenden, den Schuhmachern Feeser, Müller und Mauer (zeitweilig auch Ortsvorsteher), den recht wohlhabenden Kunstmüllern Hermann und dann Kieser, dem Schmiedemeister Klemm, dem Kronenwirt und Bierbrauer Beilharz und dem Krämer Hauser. 1905 errichtete der damalige Kronenwirt Wilhelm Keuerleber die erste Metzgerei in Riet (heute Metzgerei Hornickel - Anm.: existiert inzwischen nicht mehr). Zum Kronenwirt gesellte sich der Rosenwirt.
Ein einst vorhandener Bäcker verschwand wieder. Geblieben ist das Gemeindebackhaus, das sich noch heute großer Beliebtheit erfreut. Der lange Zeit größte Gewerbebetrieb im Ort blieb die stattliche Mühle, 1791 vom Müller Christoph Fakler erbaut, erst dem jüngsten Mühlensterben zum Opfer gefallen. Später kam am Berghang das Reischachsche Kalkwerk hinzu. Doch in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wurde in Riet kaum ein neues Gebäude errichtet.
Um die Mitte der 1950er Jahre aber erwachte Riet plötzlich zu völlig neuem Leben. Das Wunder des Wachstums von Riet begann. Geblieben war der Fleiß der Rieter, an dem auch die zahlreiche Zuwanderung von Heimatvertriebenen und Fremden nichts änderte. Riet wies seit jeher und weit und breit die höchste Erwerbstätigleit aus, im Jahre 1970 87,7 %. Dabei hat sich die Beschäftigungsstruktur gegenüber dem Jahrhundertanfang grundlegend gewandelt. Die 1970 noch vorhandenen 29 Beschäftigten der Land- und Forstwirtschaft wurden zur Minderheit von 13 %; mit 61 % dominierten die Beschäftigten des produzierenden Gewerbes, gefolgt von den 14 % Beschäftigten in Handel und Verkehr.
Zu diesem Wandel in der Beschäftigtenstruktur trugen nicht unwesentlich die in Riet
angesiedelten Unternehmen bei, heute über 20 an der Zahl, die Betriebe der Metallbranche
(Hauser, Stolz, Schrade), des Verkehrs- und Transportwesens (Gebr. Hauser, Flattich,
Munz) und die verschiedenen Firmen des sonstigen Dienstleistungsbereichs (Unternehmensberatung,
Versicherungen, das Frisierstüble nicht zu vergessen).
Unternehmensgründer waren alteingesessene Rieter Familien und Zugewanderte. Sie
alle wurden zu Mitgestaltern des modernen Riet, trugen vielfaches Risiko und mussten
sich den scharfen Wind rasch wechselnder Marktbedingungen ins Gesicht blasen lassen.
Die Leidensgeschichte des um seine Existenz kämpfenden letzten Lebensmittelladens
in Riet machte in der Presse Schlagzeilen. Die Selbsthilfe der Rieter war und ist
aufgerufen. Auch der Bestand der Handwerksbetriebe in der Metzgerei und im Elektrofach
muss durch Einkauf und Aufträge der Einwohner gesichert werden. Dies gilt ebenso
für die Einkehr in den Gasthäusern »Eintracht«, »Rose« und »Strudelbächle«.
Das Wachstumswunder von Riet lässt sich verständlicherweise auch nur unvollständig aus Bankgeheimnissen lüften. Doch eines ist nicht zu übersehen: Je mehr Riet vom Strudelbachtal aus immer breiter und höher an den Hängen hochwanderte, um so höher stiegen auch die Bilanzsummen der hiesigen Genossenschaftsbank - 1960: 272.000 DM, 1963: eine halbe Mio., 1968: fast eine Mio. DM.
Wachstum von Riet bedeutete mehr Einwohner, mehr Häuser, mehr Wohnungen, mehr Einkommen. Im Jahre 1956 verfügte Riet bei etwa 450 Einwohnern, rund 100 Heimatvertriebene darunter, über einen Bestand von nur 107 Wohnungen. Bis 1968 verdoppelte er sich auf 214, von denen 31 % öffentlich gefördert worden waren. Am Ende des zweiten Weltkrieges befanden sich in Riet etwa 50 Wohnhäuser, heute (Anm.: 1987) sind es ca. 270, die mehr als fünffache Anzahl, in der Hauptsache Ein- und Zweifamilienhäuser, wodurch die Mehrzahl der Rieter zu Eigentümern wurde.
Zur Geburt des modernen Riet, wie es sich uns heute darbietet, wurde, überschlägig
geschätzt, im Verlaufe weniger Jahrzehnte ein Kapital von annähernd 100 Mio. DM
investiert, eine gewaltige Summe, die erarbeitet werden musste und noch heute zu
erarbeiten ist.
Im Jahre 1856 wurde demgegenüber der Gebäudewert des alten Riet im Brandversicherungsanschlag
auf 86.100 fl (= 146.370 Mark) beziffert.
Die Heimat
Zur Heimat, ein heute wieder viel diskutierter Begriff, gehören wohl seit jeher die eigenen vier Wände zum Wohnen. Das Mindeste, was hinzukommen musste als weiteres soziales Teilstück von Heimat, war der Arbeitsplatz. Wohnung und Arbeitsplatz sind für viele Rieter inzwischen zwei getrennte räumliche Pole, die durch die tägliche Pendelwanderung zusammengeführt werden müssen. Aber Wohnraum - so respektabel er sein mochte - und Arbeitsalltag - so sehr er auch berufliche Erfolge brachte - schufen allein noch nicht wirkliche Heimat. Ein drittes politisch-soziales Element muss hinzutreten: Die Zugehörigkeit zu einer freien, eigenverantwortlichen Bürgergemeinde, die Integration in eine intakte Bürgerschaft im Rahmen einer menschenwürdigen Umwelt.
Der Mensch muss teilhaben am Leben seiner Heimatgemeinde, Gemeinschaftsaufgaben
wahrnehmen dürfen, durch örtliches Gemeinschaftsleben die örtliche Eigenart erhalten,
wie der Erlass des Innenministeriums zur Ortschaftsverfassung von 1978 betonte.
Seit alters haben die Rieter durch vielfältige ehrenamtliche Mitarbeit in Gemeindegremien,
in Vereinen usw. ein hohes Maß an sozialem Engagement und Pflichtbewusstsein bewiesen.
Daran sollte sich auch künftig nichts ändern, damit Riet, das zwar kleinste, aber
wohl schönste Juwel auf der Krone der Teilgemeinden, die sich die Stadt Vaihingen
1972 auf's Haupt gesetzt hat, auch in Zukunft Riet bleibt:
Ein eigenständiger Ort mit Selbstverantwortung und Selbstverwaltung, mit Zusammengehörigkeitsgefühl
und Selbstbewusstsein, mit Stolz auf das Errungene, mit Stolz auch auf die eigene
Geschichte, die einem nicht genommen werden sollte.